Antisemitismus und Geschlecht

Redebeitrag auf der enter_the_gap – sowie der Take back the night – Demonstration

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Wir sind heute hier, um gemeinsam gegen Sexismus und Verharmlosung sexualisierter Gewalt zu demonstrieren! Auch wenn die lange Geschichte feministischer und queerer Kämpfe und die sich auch dadurch wandelnden gesellschaftlichen Anforderungen an die Geschlechterrollen immer wieder wichtige Verschiebungen bewirken konnten, ist und bleibt das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ein eindeutig bipolares, hierarchisches Unterdrückungsverhältnis, in dem andere Entwürfe keinen Platz haben dürfen. Sexismus und sexualisierte Gewalt werden innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie Rassismus und Antisemitismus notwendig reproduziert und können nur mit diesen zusammen aufgehoben werden.

Das bürgerliche Subjekt ist ein historisch-gewachsenes Produkt moderner Vergesellschaftung, das die bürgerliche Gesellschaft beständig reproduziert. Dieser dialektische Prozess hat sich gegen das einzelne Subjekt jedoch weitgehend verselbstständigt. Um in dieser heteronormativen, kapitalistischen Gesellschaft bestehen zu können, muss sich das bürgerliche Subjekt in einem gewaltvollen Prozess die Normen der Konkurrenz und des Tauschwerts genauso zu eigen machen, wie es die ihm zugeschriebene Geschlechterrolle und die erwarteten sexuellen Praxen widerspruchslos performen muss. Wir sind dazu gezwungen, alle Wünsche und jedes Begehren zu unterdrücken, die dem modernen Idealtypen des männlichen, rationalen, den eigenen Körper und die eigenen Triebe beherrschenden Subjekts widersprechen.

In dieser Konstruktion der eigenen Identität, die durch ständige Reproduktions- und Verdrängungsprozesse bedingt wird, liegt die zentrale Ursache sowohl für das antisemitische sowie das frauenfeindliche Ressentiment, als auch für den Hass auf alle nicht in das heterosexuelle Schema passenden Menschen. Denn unterdrückte Wünsche und Gefühle verschwinden nicht: Sie tauchen in verschobenen Formen oft auch gewalttätig wieder auf.

Das bedeutet, dass die Feindschaften demnach ziemlich wenig mit den betroffenen Personen zu tun haben und diese unabhängig von ihrer eigenen Identifikation als Projektionsfläche der Hassenden herhalten müssen. Wenn im Folgenden von „der Frau“ und „dem Weiblichen“ oder „dem Juden“ und „dem Jüdischen“ die Rede ist, so meinen wir damit ausschließlich die stereotypen Vorstellungen des Ressentiments. Selbstverständlich trifft dieses wiederum reale Personen, jedoch nicht, weil sie es erfüllen, sondern weil es ihnen zugeschrieben wird.

Das rationale, abgeklärte und abgegrenzte sowie autonome Subjekt wird in der bürgerlichen Gesellschaft in Abgrenzung vom weiblichen Idealtypus konstruiert. Dieser ist passiv, emotional, irrational und nicht in der Lage, über seine Natur hinauszuwachsen. Vielmehr wird er mit Natur assoziiert, vor allem mit Sexualität und dem darin transportierten Wunsch nach Verschmelzung und Entgrenzung. Durch die mangelnde Autonomie des weiblichen Idealtypus erscheint „die Frau“ dem angeblich souveränen bürgerlichen Subjekt nicht nur als unterlegen, sondern auch als Bedrohung.

Die erwähnte Souveränität des bürgerlichen Subjekts ist selbstverständlich eine Illusion: Karl Marx und Sigmund Freud können als diejenigen gelten, die sie in ihren Grundfesten erschütterten. Der eine versuchte deutlich zu machen, dass niemand ohne den Besitz an Produktionsmitteln frei sein kann, da die eigene Arbeitszeit zum Zweck des Überlebens an die besitzende Klasse verkauft werden muss und überdies selbst der Besitz an Produktionsmitteln nicht vor den irrsinnigen Anforderungen der kapitalistischen Gesellschaft schützt, nämlich selbstzweckhaft Mehrwert zu produzieren, um mehr Mehrwert produzieren zu können. Der andere zeigte auf, dass das ach so rationale bürgerliche Subjekt sein Handeln nicht derart bewusst steuern kann, wie es dies gerne tun würde. Gerade diese Brüchigkeit der eigenen Identität veranlasst das bürgerliche Subjekt dazu, viel Energie aufzubringen, um die Illusion der Autonomie aufrecht zu erhalten. Dies geschieht unter anderem, indem es sich von „dem Weiblichen“ abgrenzt, sich teilweise sogar durch einen auf „die Frau“ gerichteten Hass der Anziehung der auf sie projizierten bei sich selbst unterdrückten Wünsche entzieht. Was wir als bürgerliche Subjekte dem anderen vorwerfen, ist daher oft ein Ausdruck unserer eigenen verdrängten Wünsche.

Auch das antisemitische Ressentiment ist, auf der Subjektebene, das Resultat unbewusster Projektion. Während sich das bürgerliche Subjekt über zuvor genannte Aspekte der Moderne wie Rationalität und Triebkontrolle definiert, lehnt es andere kategorisch ab. Dieser Prozess der Entscheidung spielt sich jedoch nicht reflexiv und bewusst, sondern im Unbewussten des einzelnen Individuums ab. Dort bearbeitet das bürgerliche Subjekt seine Ängste vor gesellschaftlichen Veränderungen, sein Unbehagen mit seiner fortwährenden Ausbeutung und seinen Neid auf diejenigen, in denen es seine unterdrückten Bedürfnisse verwirklicht glaubt.

Wir alle sind dazu gezwungen, unsere Arbeitskraft zu veräußern und damit Wert zu produzieren. Dass bereits hier, in der Produktion, Mehrwert abgeschöpft wird, bleibt den Individuen jedoch zumeist verborgen. Der Unterschied zwischen der geleisteten Arbeit und der erhaltenen Entlohnung wird für die lohnabhängigen Individuen erst auf dem Markt sichtbar. Mitnichten kommt das bürgerliche Subjekt zu dem naheliegenden Schluss, den Produktionsprozess als ganzes zu hinterfragen. Vielmehr wurde seit jeher der_die Händler_in oder Geldverleiher_in zum_zur Addressat_in der Wut über die erfahrene Ausbeutung.

Das Subjekt schiebt die Schuld für die es plagenden Widersprüche des Kapitalismus auf das vermeintliche „Außen“. Auf „den Juden“ projiziert es das Abstrakte der Moderne, die Geldwirtschaft, den Handel, das „raffende Prinzip“ schlechthin, genauso wie gesellschaftliche Umbrüche und ihre politischen Ausdrücke, so wie den Neoliberalismus oder den Sozialismus. So stellt es sich als schaffendes Subjekt, welches alles richtig macht, indem es hart arbeitet und sich selbst beherrscht, „dem Juden“ gegenüber. Denn irgendwer muss ja verantwortlich sein für die vielen unerfüllten Versprechungen, latenten Widersprüche und die Entfremdung in der Moderne. „Der Jude“ ist der Feind im Inneren, den die sich ebenso abgrenzende Identität der Nation benötigt. Sie stabilisiert somit ihre Gemeinschaftssemantik ebenso gegen die Bedrohungen der Moderne, wie das Individuum durch die Abrenzung zum Juden. Die Analogien der Abgrenzungen von Nation und Individuum sind dabei kein Zufall. Mit einer scheinbaren Harmonie von Gemeinwohl, Staatsräson und individuellem Interesse wird den offenen Fragen nach sozialer Verortung, sinnhafter Lebensführung, Weltdeutung und Identität entgegengewirkt.

So haben die Konstruktionen „des Jüdischen“ und „des Weiblichen“ zwar sehr unterschiedliche Bedeutungen in dem Prozess der Identitätsbildung des Subjekts, übernehmen beide jedoch ähnliche Funktionen und können somit bei der Analyse des bürgerlichen Subjekts, das sich seine Einheit zusammenzubasteln versucht, nur gemeinsam mit weiteren Abgrenzungsmechanismen – wie bespielsweise dem Rassismus – betrachtet werden.

Auch wenn Sie sich in ihrer Funktion ähneln, ergeben sich in der Konsequenz sehr unterschiedliche Umgangsweisen für das bürgerliche Subjekt. Der Umgang mit „der Frau“ muss vor allem einer der Beherrschung sein, während die aktivere, heimliche und parasitäre Bedrohung durch den von Innen zersetzenden „Juden“ letztendlich nur durch dessen Vernichtung verhindert werden kann. Dieser Unterschied sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass natürlich auch die Bedrohung des bürgerlichen Subjekts durch „die Frau“ ein zentrales Motiv für frauenfeindliche Gewalt ist, die nicht selten tiefe psychische und physische Schäden verursacht und oft genug erst mit dem Tod der Betroffenen endet.

Historisch betrachtet fanden so die Hexenverbrennungen gerade nicht in den dunklen Zeiten des Mittelalters statt, sondern in der Anfangszeit der bürgerlichen Gesellschaften, der Zeit, in denen sich bürgerliche Subjektivität zu bilden begann. Der Prozess, in dem sich eine neue Identität ausbildet, ob gesellschaftlich oder individualbiographisch, erfordert eine massive Abgrenzung nach Außen und ein konsequente Abspaltung von allem, was diesen Prozess gefährden könnte. Dies ist der radikalste Ausdruck des Versuchs das zweifelhafte in der anderen Person zu vernichten.

Auch alltäglicher Sexismus und sexualisierte Gewalt sind in diesem Kontext der Bedrohung von Männlichkeit zu sehen. Die Angst vor der inneren Auflösung der Grenzen zwischen den Individuen, der Zersetzung, wird sowohl auf „die Frau“ als auch auf „den Juden“ projiziert. Bei der Bedrohung durch „die Frau“ ist dies vor allem die Sexualität, das Verschmelzen im Anderen, also die Angst des bürgerlichen Subjekts ineinander aufzugehen, die eigenen mühsam errichteten Grenzen zu verlieren.

Es ließen sich noch weitere strukturelle Gemeinsamkeiten beider Ressentiments aufzeigen, wichtiger erscheint uns jedoch folgender Zusammenhang: Gerade in ihrer Gegensätzlichkeit ergänzen sich beide Konstrukte und ermöglichen dem bürgerlichen Subjekt so seine permanente Reproduktion. Denn durch die Projektion der negativen Aspekte der Moderne auf „die Frau“ und „den Juden“ entgeht das bürgerliche Subjekt der Auseinandersetzung mit den Widersprüchen der Gesellschaft und der Konstruktion seines Selbst. Demnach erschaffen bürgerliche Gesellschaften „die Frau“ und „den Juden“ permanent neu, um sich selbst zu erhalten. Dies bedeutet auch, dass in dieser Gesellschaft, d.h. unter den Bedingungen der modernen Warenproduktion Antisemitismus und Sexismus niemals grundlegend überwunden werden können. Unsere Kritik muss also immer auch an den Grundpfeilern dieser Gesellschaft rütteln und die Denk- und Handlungsweisen elementar hinterfragen. Hierzu gehört immer auch die stetige Reflektion der eigenen Subjektivität und des eigenen Handelns. Leider scheint eine progressive, also revolutionäre gesellschaftliche Veränderung gerade nicht in greifbarer Nähe. Deshalb sind uns zwei Dinge wichtig: Zum einen muss eine Praxis gelebt werden, die auch im hier und jetzt versucht, Betroffenen konkrete Hilfe zu leisten und Räume zu schaffen, in denen sich freier bewegt und weiter gedacht werden kann. Gleichzeitig darf jedoch nicht auf ein differenziertes Verständnis moderner Vergesellschaftung verzichtet werden: Emanzipatorische Politik muss Heterosexismus, Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus begreifen, um sie zu bekämpfen. Ein Stehenbleiben bei den im Bestehenden zu erringenden Erfolgen wird immer auf Kosten Einzelner gehen.

Wir wissen, dass das jetzt für einen Redebeitrag ganz schön viel war, meinen aber, dass eine Vereinfachung nicht im Sinne der Kritik ist: ihr findet diesen Text daher nochmal zum Nachhören bzw. -lesen auf der Homepage unter enterthegap.blogsport.de oder unter souslaplage.org Im Rahmen der Aktionswoche wird am Dienstag zudem einen Workshop zu den Verschränkungen von Antisemitismus und Geschlechterverhältnis angeboten.